Fahrradfahren

Zu unserem ersten Date bin ich zu spät gekommen. Ich bin am gleichen Tag, ein Donnerstag im Urlaub, in der Heimat gelandet, habe meinen Koffer daheim abgeliefert, mich schnell datefrisch gemacht, noch ein an mich adressiertes verspätetes Geburtstagsgeschenk in der Packstation abgeholt und mich dann in den kleinsten Parkplatz in der näheren Restaurantumgebung gequetscht, um doch nur die obligatorischen 15 Minuten zu spät aufzukreuzen.

Er saß schon am Tisch, mit weißem Hemd und Jeans bekleidet, und strahlte mich an. Wir aßen, tranken, unterhielten uns gut, vor allem über unterschiedliche Ernährungsweisen: er zu dem Zeitpunkt Veganer, ich in den ersten Gehversuchen des Weizenverzichts. (Wenn ich das jetzt so schreibe, überlege ich, ob das wirklich die interessantesten Themen waren und ich nicht da schon wieder hätte gehen sollen.)

Sonntagabend trafen wir uns zum zweiten Date auf einen Drink, um anschließend nach Bar 1 und Bar 2 wild im Schein des Mondes mitten auf der Straße rumzuknutschen.

Am Wochenende darauf war ich halb beruflich halb privat im näheren Ausland unterwegs. Beim zweiten Date habe ich eher spaßeshalber angedeutet, dass er nachreisen könne, da die Veranstaltung nur tagsüber stattfindet und wir uns dann abends und am nächsten Tag die Stadt anschauen könnten.

Gesagt getan – Samstagabend stehe ich am Bahnhof in der Touristenmetropole und erwarte ihn zu Date Nummer 3. In einer für uns beiden fremden Stadt.

Das hat mich schon ein bisschen beeindruckt. Und über kurz oder lang führte eins zum anderen und ich war in einer Beziehung. Nach sechs Jahren Singledasein.

Umgewohntes Terrain. Denn, ist es eigentlich bedenklich, dass man die eigene Wohnung intimer findet als Sex? Oder ist es einfach nur so, dass meine eigenen vier Wände mir gehören und ich hier nicht mit Erinnerungen konfrontiert sein möchte und somit lieber meistens zu meinen Dates nach Hause gehe, um deren Schlafzimmer mit Andenken von mir zu versehen?

Genau das sind Gedanken, die mir durch den Kopf schwirren, wenn ich jemanden kennenlerne, der plötzlich als potenzieller Partner in Frage kommt. Sex ist ein schöner Akt, muss aber nicht intim sein. Intim im Sinne von einem Seelenstriptease. Ich sehe es als Spaß, Zeitvertreib, Hobby, gemeinsame körperliche Ertüchtigung, bei der wir uns zwar physisch näher kommen, aber nicht seelisch. Dies zu erlernen und Sex nicht gleich mit Verliebtheit oder Nähe zu verwechseln, hat eine Weile gedauert. Aber seither kann ich oberflächlichen Sex mit Männern, auch ohne Drama, viel besser genießen. (Dass Sex in Kombination mit Liebe nochmal auf einem anderen Level stattfinden kann, ist mir durchaus bewusst.)

Doch zurück zum Thema: bei ihm ahnte ich, dass ich mich verletzlich mache, sobald ich ihn in meine Wohnung lasse. Meinem Rückzugsort. Der Platz, an den ich immer wieder zurückkehre und mich heimisch fühle. Wo alle meine Sachen, Gedanken, Erinnerungen sind. Place to be.
Dort einen Eindringling, in männlicher und so intimer Form, reinzulassen, kostet mich manchmal Überwindung. Wer aber immer auf der gleichen Stelle tritt, kommt nicht weiter. Mhm… Na dann: Immer hereinspaziert.

Nach all den Jahren des Alleinseins musste ich feststellen, dass es nicht wie Fahrradfahren war. Es kam mir vor wie eine neue Erfahrung. Wobei jede Beziehung sicherlich auch eine neue Erfahrung ist.

Er hatte mir keine bekannten Altlasten, war höflich, zuvorkommend, machte den Eindruck, dass er sich selbst zu beschäftigen weiß und nicht eine Frau sucht, die seinem Leben wieder einen Sinn gibt, meine Freunde fanden ihn sympathisch und ich war plötzlich das Pärchen, das eingeladen wurde. Komplettes Neuland. Auch, dass ich die „Schwiegermutter“ kennenlernte und herzlich bei jedem Besuch dort empfangen wurde, war für mich neu (teilweise tot, verzogen oder mir strömte Antipathie entgegen).

Oft jedoch habe ich ihn angeschaut und mich gefragt „was tue ich hier?“. All meine Nummern potenzieller Ersatzbankspieler habe ich gelöscht, Sexanfragen anderer während unserer Zeit gekonnt ignoriert und selbst der Ewige konnte dieser Beziehungswand nichts antun. Oft hatte ich auch das Gefühl, dass mir, im Vergleich zu all den anderen Beziehungen, die ich vorher hatte, etwas fehlte. Und irgendwann ist es mir aufgefallen: das ganze Herz-Schmerz-Drama, das sonst immer anliegt und die Ups and Downs verursacht hat, gab es hier überhaupt nicht. Es war wohl eine gesunde Beziehung zweier Menschen, die sich gegenseitig anziehend fanden, Zeit miteinander verbringen wollten und sonst nichts. Keine ausufernden Streitgespräche mit anschließendem Versöhnungssex, kein wütendes Türgeknalle, Werfen von gerade in der Nähe liegenden Gegenständen oder bösen Gedanken in verbaler Form – nichts dergleichen. Einfach ein gleichbleibender Sinusrhytmus bei dem kein Arzt panisch eingreifen würde.

Irgendwie fehlte mir das Drama ab und zu. Aber oft vermisste ich es nicht sondern fing an, mich in diesem Geborgensheitnest wohlzufühlen. Dennoch gab es die Situationen, in denen ich einfach ausbrechen wollte, mehr Leidenschaft wünschte und darum flehte, nur still im Inneren, dass irgendwas passierte. Etwas, das meine Knie zum Erweichen bringt, mein Herz schneller schlagen lässt oder mich irgendwas aus diesen täglichen Alltagstakt bringt.

Da ich lange allein war und gerne Zeit mit mir selbst verbringe, mir selbst genüge, nicht immer auf die Gesellschaft anderer angewiesen bin, alleine reise, im Café sitze, Museen bestaune, Konzerte besuche, ist es für mich auch eher ungewohnt, wenn ich plötzlich ein Paar bin, das in wir-Form denken muss. Und bei einem wir kann muss ich nicht mehr alles alleine machen. Was ich jedoch noch oft gemacht habe. Oder machen wollte. Nicht immer dazu kam. Dennoch erlebte ich dann genau diese Reaktion: ein trotziger Junge, der sich felsenfest darauf verlassen hat, dass wir gemeinsam etwas unternehmen, aber sein Spielpartner nun doch plötzlich keine Zeit für ihn hat. Nur war er ja nicht plötzlich der Mittelpunkt meines Lebens. Das war immer noch ich und ich wollte weiterhin die Zeit mit meinen Freunden verbringen, die ich bereits schon immer seltener sah. Kommunikation hätte dieses Verhalten bzw. diese Reaktionen ein wenig abmildern können. Hat es aber nicht. Da ich versuchte mich zu erklären und Argumente dafür jedoch von ihm nicht verstanden wurden, kam wohl eins zum anderen.

Ich bin einfach beruflich viel unterwegs und so verbrachten wir oft nur die Wochenenden gemeinsam. Alles plante und drehte sich um die wenige Zeit, die mir oder uns zur Verfügung steht. Ich bin gern verplant und strukturiert, gerade in den Grundzügen meiner beruflichen Tätigkeit und buche dennoch auch gern spontan und außer der Reihe Flüge sonstwohin oder entscheide mich nach mehrmaligem Erwähnen und Schwärmen für einen Kinofilm doch noch in letzter Sekunde für einen anderen. Bauchentscheidungen eben. Diese Spontanität hat nicht immer in sein Weltbild gepasst.

Plötzlich hat er von jetzt auf gleich seinen Job für sein Haupteinkommen verloren, wurde jedoch sechs Monate freigestellt und hatte somit genügend Zeit, sich auf sein zukünftiges Leben, seinen dauerhaft bestehenden Nebenjob, unseren bevorstehenden Urlaub und vielleicht auf uns zu konzentrieren. (Absteigende Priorisierung? – Vielleicht.)

Den Job zu verlieren ist echt keine schöne Sache. Das haben viele sicher schon erlebt und kennen diese Ungewissheit, der man plötzlich gegenüber steht, die sich wie eine Last auf die Schultern legt, morgens mit Dir aufsteht, Dich beim ersten Kaffee fragend anschaut und immer wieder von sich gibt Und was jetzt?.

Er hatte große Angst, mir von dem Jobverlust zu berichten, aus Angst, ich könnte ihn als Verlierer ansehen und ihn verlassen. Das kam mir jedoch überhaupt nicht in den Sinn. Schließlich habe ich ihn als selbständigen und erwachsenen Mann kennengelernt, der weiß, was er im Leben will und den so schnell nichts aus der Bahn wirft. Bodenständig und souverän.

Doch plötzlich hatte er Zeit. Sehr viel Zeit. Während ich irgendwo im Nirgendwo arbeitete, saß er daheim und versuchte seine Gedanken zu sortieren, was ihm jedoch nicht gelang. Weil er mich vermisste, wie er sagt.

An den Wochenenden konnte er sich plötzlich konzentrieren. Weil ich da war. Anwesend. Ich, der Gedankensortiermensch. Meine Anwesenheit allein reicht also wohl aus, dass er von jetzt auf gleich Ordnung in seiner Kopfwelt herstellen kann.

Es kommt, was zu erwarten war, sonst gäbe es diesen Eintrag wohl nicht. Nachdem er bereits mehrmals den Gedanken geäußert hat, dass es so nicht weitergehen kann (ich, nie da, er, aufgrund meiner Abwesenheit nicht wissend, was er will), kam es zu einer Facetime-Situation kurz bevor wir eigentlich am Abend zu Freunden fahren wollten. Ich, daheim sitzend und arbeiten, er daheim sitzend und wieder grübelnd darüber, ob denn alles noch so gut läuft.

Geduld ist nicht unbedingt immer meine Stärke. Und zweimal bereits so etwas wie Zurückweisung in einer, in meinen Augen bis dahin, stabilen Beziehung erlebt zu haben, versetzt mich auch früher oder später in den Zugang des Aufgebens.

Gar nicht mehr groß auf die Frage, ob ich denn finde, dass es in unserer Beziehung noch gut läuft, eingehend, habe ich ihn gebeten, all meine Sachen bei ihm einzusammeln und mir zu bringen.

Aufgelegt. Angefangen, alle seine Sachen einzusammeln, zu stapeln, auch alle Geschenke, die er mir je gemacht hat. Ruckzuck war die Tüte voll.

Hingesetzt. Geweint. Kurz gesammelt. Freundin angerufen. Statusbericht abgeliefert. Outcome des Gesprächs: Wirf noch nicht alles hin sondern redet noch mal.

Aufgelegt. Darüber nachgedacht, dass ich ja nicht mehr 17 bin und dieses Drama ja doch nicht brauche und sämtliche Gegenstände wieder an ihren Platz geräumt. Bis auf einen kleinen gelben Zettel, der unter seiner Kleidung in seiner halben Schublade lag. Ein Zettel von mir mit lieben Worten. Den aus den Müll zu fischen und wieder glattzubügeln hätte nicht funktioniert.

Er klingelt, hat eigentlich einen Schlüssel, ich öffne die Tür, ich setze mich wieder an den Tisch, ich arbeite zeitgleich noch, er steht im Türrahmen. Wir reden, er druckst rum, mit Ausreden, wieso er Schluss macht. Weinen, diskutieren, Skype-Chat meines Chefs nebenher, weinen, Ausreden, usw.

Am Ende kommt heraus, dass er sich nur konzentrieren kann, weil wir am Wochenende Sex haben. Er wollte es nicht zugeben, weil er sich so dafür geschämt hat. Für ein menschliches Bedürfnis. Auf die Idee, mich zu besuchen in dieser nicht all zu weit entfernten Stadt, in der ich es sich im Hotel sehr gut leben lässt, das Hotelzimmer groß genug für zwei ist, ja darauf kommt er nicht. Hier möchte ich noch mal daran erinnern, dass er für Date 3 ins Ausland nachgereist ist 😉 Dort gab es übrigens keinen Sex.

So fing er an, seine Sachen in meiner Wohnung einzusammeln. Als er bei der Schublade war, fiel ihm natürlich sofort auf, dass der gelbe Zettel fehlte. Er schluchzte, bemerkte es und ich frage nur kopfschüttelnd, was ich denn sonst auch anderes hätte tun sollen? Wie er noch erwarten kann, den Zettel vorzufinden, bei der Ablehnung, die er mir gegenüber an den Tag legte.

Eine Woche verstreicht, ich arbeite, beende mein Projekt, löse mich von ihm, versuche ihn zu vergessen, fliege in den Urlaub, und kaum bin ich in der Ferne gelandet, schreibt er, zieht an meinen Nerven, vermisst mich. Uns. Alles. Denkt darüber nach, mir in den auf den kurzen Städtetrip folgenden Strandurlaub hinterherzureisen. Ich schicke ihm die Flugdaten, er denkt darüber nach, wir telefonieren, er macht mir Hoffnung. Das Übliche. Trennungsdesaster.

Ich kehre vom Städtetrip zurück, habe schon stundenlang nichts von ihm gehört. Ich habe die Vermutung, den Gedanken, der mich ganz verrückt macht, dass er die Nacht mit einer Frau verbracht hat. Einer anderen kann ich schlecht sagen, da ich nicht mehr die Frau an seiner Seite bin.

Er schreibt mir eine meterlange Nachricht, in der er mir mitteilt, dass er die Nacht, Überraschung, nicht daheim verbracht hat, er mir nicht in den Urlaub nachreisen wird und er mir das lieber alles persönlich mitgeteilt hätte anstatt in einer Nachricht.

Ein Telefonat folgt. Ich frage ihn, was er sich denn dabei gedacht hat, überhaupt auf die Idee zu kommen, mir in den Urlaub nachzufliegen.

Er hat gedacht, dass wir Freunde sind. Nach 14 Tagen Trennung. Freunde.

Was ich aus dieser Begegnung mitgenommen habe:

  • Freunde habe ich genug
  • Mit Exfreunden befreundet zu sein funktioniert (für mich) einfach nicht
  • Ein Tapetenwechsel nach der Trennung hilft immer wieder (erst recht, wenn ich am Strand sitzen kann mit einer Kokosnuss in der Hand)
  • Ich kann mich auf mein Bauchgefühl verlassen
  • Die Geschenke hat er hier gelassen und ich nutze sie teilweise immer noch (oder habe sie auf diversen Plattformen verkauft)